von Ruth Weiss
Kaum denkt man, man wisse über den Holocaust Bescheid, erfährt man wieder etwas Neues.
Die Geschichte der besonderen Freundschaft einer jüdischen und einer christlichen Familie, die vom Londoner „Daily Telegraph“ veröffentlicht wurde, ist eine dieser erstaunlichen Geschichten.
Die Justiz wurde sofort ab 1933 von den Nazis als Instrument benutzt, um die Opposition durch politische Gerichtsverfahren zum Schweigen zu bringen. Im April 1933 wurden jüdische und sozialdemokratische Richter, Gerichtsbeamte, Rechtsanwälte ihrer Posten enthoben oder verloren ihre Zulassungen. Das deutsche Justizsystem verlor seine Unabhängigkeit durch Einführung politischer Gerichte. Willkürliche Verhaftungen und Überweisungen in Konzentrationslager wurden bald zum Alltag. Langsam wurde das Rechtssystem untergraben, Amtsgerichte beiseite geschoben und „Sondergerichte“ mit umfassender Vollmacht ernannt, die dafür sorgten die Öffentlichkeit einzuschüchtern. Folgerichtig wurden in den Nürnberger Prozessen 1945 bei den Gerichtsverfahren gegen Richter die Urteile der Sondergerichte als Justizmord gewertet.
Untergrabener Rechtsstaat
T4 – kurz für Tiergarten 4 in Berlin – war die Adresse der Verwaltung des Euthanasie Programms, durch welches zwischen 275 000 und 300 000 Personen mit physischen oder psychischen Problemen in Deutschland, Österreich und den besetzten Gebieten in medizinischen Institutionen ermordet wurden. Nur wenige Stimmen protestierten dagegen, die berühmteste war die des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen. Eine andere war die des Richters Lothar Kreyssig. Was mich zu Gertrud Prochownik bringt, deren Geschichte der „Daily Telegraph“ veröffentlichte.
Die Geschichte der Gertrud Prochownik
Ihre Enkelin Jenny, die mit ihrer Familie in der Bretagne lebt, erinnert sich liebevoll an Omi, die bei ihnen lebte, den „Spiegel“ las, die Enkelkinder verwöhnte und mit einer deutschen Familie namens Kreyssig befreundet war. Über ihre Erfahrungen zur Zeit der Nazis sprach sie nie.
Erst 2016, als Jenny und ihre Schwester nach dem Tod ihrer Mutter Marianne einen bewegenden Briefwechsel zwischen der Großmutter und ihrer Tochter Marianne entdeckten, erfuhren sie, was damals geschehen war.
Im Jahr 1939 war die 55jährige Gertrud Witwe und arbeitete als Sozialarbeiterin der Jüdischen Gemeinde. Nach dem Pogrom der „Kristallnacht“ im November 1938 hatte sie ihre Tochter Marianne nach England geschickt. Im Jahr 1942 wurden ihre Schwester und der Schwager nach Auschwitz deportiert. Im April 1943 erhielt auch sie den Deportationsbefehl.
Anstatt diesem zu gehorchen, setzte sie sich mit Lothar Kreyssig in Verbindung, der anscheinend einem anti-Nazi Netzwerk angehörte. Er sandte sie zu einem Bauernhof, wo sie unter einem anderen Namen auf dem Land arbeitete. Mit einem schweren Arbeitstag von 18 Stunden und das zusammen mit virulenten Nazi Mitarbeiterinnen, fühlte sich Gertrud jedoch weiter gefährdet. Wieder bat sie Kreyssig um Hilfe. Diesmal holte er sie auf seinen Gutshof bei Hohenferchesar, wo sie bis Kriegsende blieb. Lothar und Hanna Kreyssig nahmen sie in ihrer Familie auf, teilten ihre Rationen mit ihr und behandelten sie herzlich und entgegenkommend. Die Familie rettete auch eine zweite jüdische Frau.
Nach dem Krieg lebte Gertrud zuerst in Australien, dann in England bei der Familie der Tochter. Sie starb im Alter von 97 Jahren. Den Kontakt mit den Kreyssigs verlor sie nie, und auch nicht ihre Dankbarkeit in der Erkenntnis, welches Risiko diese auf sich genommen hatten. Gertruds Enkelin Jenny war als Schülerin bei der Familie, um deutsch zu lernen – und ohne damals die vollen Hintergründe zu kennen. Die heute 62jährige ist weiter mit Martin Kreyssig, dem Enkel von Lothar und Hanna Kreyssig gut befreundet.
Richterliche Unabhängigkeit
Lothar Kreyssigs Lebenslauf (1898-1986) zeigt, dass damals überzeugtes Handeln mit grossem Risiko behaftet war, aber er einer dieser beherzten Menschen war und blieb. 1898 in Flöha, Sachsen geboren, studierte Jura und wurde Richter während der Weimarer Republik und blieb es während der Nazizeit. Im Jahr 1933 trat er zunächst systemkonformen Berufsorganisationen bei, weigerte sich aber mit Hinweis auf seine richterliche Unabhängligkeit, der NSDAP beizutreten. Ein Jahr später wurde er Mitglied der Bekennenden Kirche in Sachsen, um dann 1935 als ihr Präses gewählt zu werden. Im Jahr 1937 wurde er in ein niederes Amtsgericht in Brandenburg versetzt, wo er als Vormundschaftsrichter das Verschwinden von behinderten Mündeln anprangerte.
Mut zur Mordanklage gegen Leiter des Euthanasieprogramms
Da er als Richter mit Vormundschaftssachen betraut und mit den Fällen mehrerer hundert Mündel mit psychischen Behinderungen befasst war, bemerkte er die ungewöhnliche Anhäufung von Todesurkunden auf seinem Schreibtisch. Er vermutete den Beginn eines Euthanasieprogramms der Ermordung von physisch und geistig Behinderten. Er teilte dies dem Justizminister mit und liess nicht nach, das T4 Programm sowie die Entmündigung von Häftlingen in Konzentrationslagern anzuprangern. Den Reichsleiter Philipp Bouhler klagte er gar wegen Mordes an. Außerdem erließ er eine einstweilige Anordnung an Institutionen, in denen sich Mündel befanden, für deren Fälle er verantwortlich war, um sicherzustellen, dass diese nicht ohne seine Erlaubnis verschickt wurden.
Darauf zitierte ihn Justizminister Franz Gürtner zu sich und zeigte ihm ein Schreiben Hitlers – der Befehl zum T4 Programm kam direkt aus der Reichskanzlei!
Kreyssig erklärte, der Befehl des Führers könne die Ungesetzlichkeit des Programms nicht aufheben
Woraufhin ihm von Justizminister Gürtner bedeutet wurde, dann könne er kein Richter bleiben. Im Jahr 1942 zwang Hitler ihn zum Rücktritt. Kreyssig zog sich auf seinen Gutshof zurück und befasste sich mit biodynamischer Landwirtschaft und der Kirchenarbeit. Es war um diese Zeit, dass er die zwei Frauen rettete.
Yad Vashem trug ihn als einen der Gerechten unter den Völkern ein.