Justiz und Gerechtigkeit

von Ruth Weiss

Die Richter sind schuldiger als andere,

weil sie in ihrer Gesamtheit das Recht hätten besser vertreten sollen.

Lothar Kreyssig

Bahnbrechende Dokumentarische Ausstellung 1960 (f: commons wikimedia)

Als am 13. September Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Historiker Prof. Norbert Frei empfing, den er 2020 beauftragte, die Nachkriegszeit seines Amtes bis 1994 zu untersuchen und ihm bis 2022 zu berichten, kam mir unwillkürlich jene Zeit in den Kopf – die sogenannte Stunde Null der Jahre 1945 bis 1949. Auch wenn ich erst in den 50er Jahren zum erstenmal wieder Deutschland besuchte – und keinem einzigen Nazi begegnete! Es bleibt mir die Frage: geistert jene Vergangenheit durch die Gegenwart?  Ist das, was heute spürbar ist an Hass, Antisemitismus, Anti-Islamismus, Menschenfeindlichkeit ein Erbe von Verdrängung aus der Nachkriegszeit?  

Sicher wars schwer – oder unmöglich? –  für jene Mehrheit der Deutschen, die als begeisterte, ja teils fanatisierte Bevölkerung der damaligen nationalsozialistischen Volksbewegung anhingen, ihr fast hörig waren, zuzugeben, was aus ihrer Zustimmung geworden war. Und ihre Kinder wollten das bestimmt auch nicht so genau wissen.

Der Bauschutt musste abgeräumt, die Ruinen beseitigt werden, den geistigen Abraum konnte man umgehen. So wurde das verschwiegene Umgehen zur ‚Zweiten Schuld‘, wie Ralph Giordani das damalige Desinteresse bezeichnete.

Präsident Steinmeiers Auftrag gehört zu der Serie von Massnahmen, die 2010 mit Joschka Fischers Untersuchung des Auswärtigen Amts begann, die bahnbrechend war und damals Bestürzung hervorrief. Was, so viele Beamten waren so tief  in die Naziverbrechen verstrickt? Unfassbar! Aber wahr. In der Nachkriegsära wollte man die vorausgehenden 12 Jahre vergessen, einen Strich drunter ziehen: Kanzler Konrad Adenauer kannte diese Forderung. Und gab zu, jeder hatte von Konzentrationslagern gewusst. Verständlich, angesichts der 42 500 KZs, Ghettos, Arbeitslager, Zwangsarbeiter- oder Kriegsgefangenenlager – es gab wohl keinen Deutschen, der nicht an einem vorbeigegangen wäre oder an den Bahnhöfen die Züge gesehen hätte, in denen rechtlose Menschen abtransportiert wurden. Doch niemand übernahm die Verantwortung.

Die allgemeine Meinung war, das hatte seine Ordnung gehabt, es war eben ‚Gesetz‘ gewesen. Sie befolgten nur Befehlen. Andere marschierten dann ‚im Inneren‘ weiter, wie sie es gelernt hatten. Wurde diese Einstellung innerhalb der Familie und privat durch die Jahrzehnte weiter verteidigt?

Adenauer wollte eine im besten Sinne ‚unauffällige‘ Gesellschaft für den Neuaufbau des besiegten Deutschlands. Die Allierten verhafteten die Naziführer die sie finden konnten, und bis 1949 wurden etwa 50 000 abgeurteilt. Dann übernahmen Deutsche diese Aufgabe, und es wurden danach weniger als 1000 weitere Täter verurteilt, obwohl Historiker damals ermittelten, dass bis zu 500 000 Deutsche an Naziverbrechen beteiligt waren. In Auschwitz arbeiteten 6 500 SS-Leute, doch in der BRD wurden nur 29, in der DDR 20 verurteilt.  Die Alliierten entließen 1945 sofort 65 000 Beamte. Viele jedoch kamen bald zurück. Während der Ära Adenauer wurden trotz Entnazifizierung Nazis reintegriert, entgingen Strafverfahren oder erhielten Amnestien, wurden gar aus Gefängnissen geholt. Ohne qualifizierte Fachkräfte gings nicht, wurde behauptet. Die 1958 gegründete Zentralstelle in Ludwigsburg sollte NS Verbrechen untersuchen, doch war nicht für Kriegsvergehen zuständig, sodass Wehrmachtsangehörige ungeschoren blieben.

Nicht nur Ministerien wie das AA oder Justiz, auch Bundeskriminalamt, Polizei und das Bildungssystem hatten noch braune Wurzeln.

Die Justiz war 2012 untersucht worden. Da ich kürzlich über den mutigen Lothar Kreyssig recherchierte, der einzige der Vormundschafts- und anderen Richter, der in seiner Amtszeit im Nationalsozialismus gegen Euthanasie protestierte, das er als Programm entlarvte und dessen Leiter er wegen Mordes anklagte, interessierten mich Richter – die ‚Soldaten des Rechts‘, laut des berüchtigen Roland Freisler. Sie hatten fraglos Leitsätze wie den von Hans Frank 1936 übernommen, die u.a. des Führers Entscheidungen und Äußerungen als geltendes Recht akzeptierten. Das hatte der Exekutive erlaubt, parlamentarische Gesetzgebungshoheit ebenso zu umgehen wie die unabhängige rechtliche Kontrolle der von ihr ergangenen Entscheidungen.

Der Nürnberger Juristenprozess 1945/6  endete in 4 Fällen mit Freispruch, in 4 Fällen mit Verurteilung zu lebenslanger Haft bzw Freiheitsstrafen von 5 bis zehn Jahren. Bereits zehn Jahre nach dem Urteilsspruch waren alle Verurteilten wieder auf freiem Fuss.

In einer mutig recherchierten aber leider schlecht finanzierten Ausstellung haben zwischen 1959 und 1962 Studenten der Freien Universität Berlin dokumentarische Informationen über Strafverfahren, summarische Verurteilungen und Todesurteile der Nazizeit zusammengetragen und öffentlich gezeigt.

Auch die Nachkriegskarrieren von 100 beteiligten Richtern und Staatsanwälten wurden offengelegt. Trotz etlicher Versuche, diese Offenlegung zu ver- oder behindern oder die Dokumente als ‚fake‘ abzutun, war ihre Wirkung groß.  Gegen 43 amtierende Juristen, die vormals in NS Sondergerichten tätig gewesen waren, wurden Strafverfahren eingeleitet. In Hessen wurden zuletzt 159 Beteiligte namentlich benannt.  Doch während die Zahl enttarnter NS-Täter im bundesdeutschen Staatsdienst zunahm, kam nach 1945 kein Verfahren gegen Richter des Volksgerichtshofs, der Sonder- und anderer NS-Gerichte zur Verurteilung.*  Tausende ehemaliger Juristen des NS-Justizapparats kehrten zurück in den Justizdienst der Bundesrepublik – der Anzahl nach in den 50er Jahren mehr als 1933! Die Jüngeren unter ihnen hatten in der Nazizeit studiert. Man ahnt warum die Nachforschungen zur Rolle der Justiz im Nationalsozialismus so viele Jahrzehnte lang in der Nachkriegszeit tabu waren.

Als beredtes Beispiel dient das Verfahren gegen den ehemaligen NS Staatsanwalt Walter Huppenkothen und NS Richter Otto Thorbeck bezüglich der Todesurteile, die sie noch kurz vor Kriegsende gefordert und gefällt hatten ,

etwa gegen Hans von Dohnanyi, Dietrich Bonhoeffer, Admiral Wilhelm Canari und andere Widerstandskämpfer, denen sie jede Rechtshilfe oder Verteidigung versagten. Die Urteile wurden zudem  noch im April 1945 nach schwerer Folter und Erniedrigung vollzogen.    

Der Nachkriegsprozess gegen diese Vertreter der Nazijustiz gilt als einer der bedeutesten und beschäftigte bundesrepublikanische Gerichte sechs Jahre lang. Zu Beginn bestätigte das Münchner Strafgericht 1951 die damals ergangenen Todesurteile als „rechtmässige Verurteilungen wegen Hoch- und Landesverrats“. Der Bundesgerichtshof (BGH) hob diesen Richterspruch auf und gab den Fall nach München zurück. Das Münchner Schwurgericht erklärte erneut, die Todesurteile hätten „der damaligen Gesetzgebung und Rechtsprechung“ entsprochen. Am 30. November 1954 hob der BGH auch dieses Urteil in einer Revisionsentscheidung auf. Im Oktober 1955 verurteilte das Schwurgericht Augsburg 955 Huppenkothen und Thorbeck lediglich wegen Beihilfe zum Mord zu sieben und sechs Jahren Zuchthaus. Der BGH hob am 19. Juni 1956 auch das Augsburger Urteil noch teilweise auf, Thorbeck wurde freigesprochen, es gab eine Verurteilung zu sechs Jahren Zuchthaus von Huppenkothen.

Die allmähliche Meinungsänderung des BGH fällt dabei ins Auge, und wieder ahnt man warum – 80% der Richter des BGH waren 1956, als das letzte Urteil fiel, selbst Juristen, die in der Vergangenheit im NS Justizsystem tätig gewesen waren! 

Bemerkenswert auch, dass die Evangelische Kirche damals zu dieser über Jahre versuchten Legitimierung der Hinrichtung Dietrich Bonhöffers und anderer Mitglieder des deutschen Widerstands schwieg.

Noch 1985 konnte sich der Deutsche Bundestag nicht zu einer generellen Aufhebung der Urteile des Volksgerichtshofes durchringen.

Erst in den späten 90er Jahren öffnete sich auch der BGH seiner Geschichte. Günter Hirsch, Vorsitzender Richter des BGH von 2000-2008, erklärte die BGH Beurteilung im Huppenkothen-Prozess, dass es sich bei den Todesurteilen um ein „ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren“ gehandelt habe, einen „Schlag ins Gesicht“ für den „man sich schämen muss.“ Zum 100. Geburtstag von Hans von Dohnanyi sagte er 2002 zur Verdrängung und Nichtverfolgung der NS-Justizverbrechen:

„Dieses Versagen der Nachkriegsjustiz ist ein dunkles Kapitel in der deutschen Justizgeschichte und wird dies bleiben.“

Die Geister jener dunklen Kapitel – erkennen wir sie in der Gegenwart und gebieten ihnen Einhalt?

* Stephan Alexander Glienke, Der Dolch unter der Richterrobe 1.12.2012