Antisemitismus

von Ruth Weiss

Am Jahrestag nach dem  Versuch in Halle, in einer Synagoge ein Massaker anzurichten, nannte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Antisemitismus einen Seismograph der demokratischen Lage.

Vor einem Jahr hatte eine feste Eingangstür die Tragödie verhindert, wonach der Angreifer in seiner wütenden Frustration zwei Zufallsopfer erschossen hatte. Präsident Steinmeier nannte die lange Liste der Überfälle auf Juden seit 1945 eine Schande und einen Angriff auf Toleranz und Menschenwürde.

Verfassungsschutzpräsident  Thomas Haldenwang wies zum selben Anlass auf die steigende Zahl der Ueberfälle  auf Juden und jüdische Einrichtungen in den letzten zwei Jahren hin. Die jüngste traurige Bestätigung dieser Entwicklung: Eine grundlose Spatenattacke  am 4. Oktober auf einen jüdischen Studenten in Hamburg, der gerade eine Synagoge betreten wollte.

Der Angeklagte von Halle steht derzeit vor Gericht. Der Hamburger Angreifer wurde bislang als verwirrt beschrieben, hatte jedoch eine Hakenkreuzabbildung in der Hosentasche, sodass man annehmen kann, er kannte dessen Bedeutung. 

Im letzten Februar wurden neun Personen türkischer Abstammunng in Hanau ermordet und andere verletzt, bevor der Täter seine Mutter und dann sich selbst erschoss. Es wurde ein Geständnis gefunden, das Hinweise auf seine rechtsextremen Ansichten gibt. 

Hanau und Halle sind symbolisch geworden für Rassismus in Deutschland, der nach Ende des 2.Weltkrieges nie ganz ausgemerzt worden war.

Wie konnte es auch anders sein!  Der Aufdeckung des Völkermords der europäischen Juden und der schlimmen Kriegsverbrechen war damals so etwas wie ein betretenes Schweigen gefolgt. Es gab keine öffentliche Debatte über die dunkle Wolke die über dem Land lastete. Aus Scham oder Schuldgefühl?  Gleichzeitig wurde es Nazitätern ermöglicht sich im Ausland in Sicherheit zu bringen, während andere unbehelligt blieben, auch viele im Beamtentum wie zum Beispiel Lehrer, die ihr Leben mit ihren festen Renten weiterführen konnten. 

Und wurden die Nürnberger Prozesse 1946 gegen die Hauptschuldigen des Naziregimes nicht vom Volk als Siegerjustiz betrachtet? Selbst die rebellischen 1968er hatten wenig wenn überhaupt in den eigenen Familien recherchiert, und wo sie gegen mangelne Entnazifizierung im Beamtentum demonstrierten, bezahlten einige von ihnen dafür mit ihrer Nichtzulassung zu eben diesem Beamtentum. 

Trotz Wiedergutmachung und der von Politikern angeregten Erinnerungskultur hat es eine bundesweite Diskussion über die Entstehung des Judenhasses und die damalige Schuld des Mitlaufens nicht gegeben – weder im Osten noch im Westen, noch nach der Wiedervereinigung.

Es gab auch  stets kleinere rechtsextreme anti-demokratische Gruppen und Parteien : Eine Vorahnung auf die Gründung der AfD , die sich seit 2015 so erstaunlichen Zulaufs erfreuen konnte. War das eine Gegenreaktion auf das herzerwärmende “Willkommen”, das breite Kreise der Bevölkerung damals den bedauernswerten Flüchtlingen entgegengebracht hatten, und auf Kanzlerin Merkels zuversichtliches „Wir schaffen das“ ? Vorurteil und schleichender Alltagsrassismus scheint durch die AfD hoffähig geworden und hat seitdem zunehmend das politische und gesellschaftliche Klima vergiftet-  im Ton und in der Tat.

Kein Wunder, dass Herr Haldenwang die Angst der Juden in Deutschland für berechtigt hält, die nun  überlegen, ob sie nicht bald wieder auf den sprichwörtlichen gepackten Koffern sitzen werden.  

Stellen wir dem Gift des Rassismus Aufklärung entgegen!

Ruth Weiss spricht über antijüdische Propaganda zu der Zeit
als sie als Kind mit ihrer Familie zur Flucht aus Nazideutschland die Koffer packen musste – Lesung 5.10.2020 in der Carl von Ossietzky Schule Berlin