75 Jahre Erklärung der Menschenrechte

Festakt im Rathaus Recklinghausen – Beiträge von Ruth Weiss

Sonntag den 10. Dezember 2023 im Rathaus der Stadt Recklinghausen – alle Stühle im Ratssaal waren besetzt, einige Gäste mussten stehen beim Festakt ’75 Jahre Erklärung der Menschenrechte‘. Ruth Weiss Beitrag reihte sich ein in die Worte der Vertreter aus Politik und Bildung – auf eine besondere Weise:

Ihr Beitrag wurde von zwei Schülerinnen vorgelesen, die sie zur Holocaust Gedenkstunde im Landtag von Nordrhein Westfalen am 27.Januar getroffen hatten und von ihrer Ansprache zu jenem Tage tief beeindruckt gewesen waren. Sichtlich stolz, ein wenig nervös, lasen sie diesen und die Antworten auf ihre vorab gestellten Fragen vor. Dass zwei es Schülerinnen wichtig war, bei der Veranstaltung zum Menschenrechtstag Ruths Part zu übernehmen, konnte die Festgemeinde ein wenig darüber hinweg trösten, dass eine Videoverbindung nach Dänemark aus technischen Gründen nicht zustande gekommen war:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.

So steht es im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEM) der Veinten Nationen.  

Damit sind alle übrigen 29 Artikel erfasst, die jeder Mensch annehmen und unterstützen sollte. Vor dem 10. November 1948, als 48 UN-Staaten dies akzeptierten, 8 sich enthielten, war der Schutz individueller Menschenschutz die Sache einzelner Staaten. Selbst 1945, beim wichtigsten Nürnberger Prozess gegen die Nazi Führer, war die Shoah – (Vernichtung der europäischen Juden) einer der Anklagepunkte, jedoch stand dies nicht im Vordergrund, sondern an letzter Stelle. Das Wort „Menschenrechte“ wurde damals erstmals vor Gericht von der Anklage benutzt.

Liest man die AEM Artikel zum Personenschutz – was etwa Verbot von Sklaverei oder Folter einschließt – , über Freiheitsrechte wie Meinungsfreiheit, soziale, kulturelle Rechte bis zum Recht auf Arbeit, Nahrung und mehr,  stellt man leider fest, dass gegen jedes Recht vielfach täglich in zu vielen Ländern verstoßen wird. Wie traurig, dass laut Wikipedia mehr als ein Drittel (36,9 %) der globalen Bevölkerung in einer Diktatur, weniger als die Hälfte (45,3 %) in einer Demokratie leben. Norwegen wird als ‚demokratischer Spitzenreiter‘ vor Neuseeland und Island genannt. Auf den letzten drei Plätzen liegen Nordkorea, Myanmar und Afghanistan. Deutschland, Österreich und die Schweiz werden zu den „vollständigen Demokratien“ gezählt.

Ein Überblick über mehre afrikanische Länder und ihre Regierungen, den ich heute las, bewies mir, dass auch in diesem Erdteil viele Eliten, trotz vergangener Freiheitskriege diese freiheitlich-demokratischen Grundrechte nun selbst verletzen. Oft auch unter Missachtung ihrer demokratischen Verfassungen, deren Paragraphen nicht befolgt werden.

Der Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen muss deshalb unbedingt Priorität sein!  Unakzeptable autoritäre Systeme müssen breit bekannt gemacht und verurteilt werden. Sanktionen und andere Maßnahmen könnten etwa dazu führen, Diktatoren und deren Anhänger zu überzeugen,  neue Schritte zu unternehmen, um sich der Demokratie zu nähern.

Den vielen  mutigen Aktivist‘Innen wünsche ich viel Kraft und Erfolg in ihrem unersetzlichen Bestreben, die UN Menschenrechtserklärung weltweit anerkannt zu machen und vor allem zu erreichen, dass sie respektiert wird, damit die Menschen weniger Rechtsverletzungen zu beklagen haben!

Ruth Weiss mit SchülerInnen des Th.Heuss Gymnasiums Recklinghausen, nach der Holocaust Gedenkstunde 27.1.23 im Landtag Düsseldorf (c) RWG/M.Voss

Fragen an Frau Ruth Weiss

Als 12-jähriges Kind einer jüdischen Familie mussten Sie mit ihrer Mutter und Schwester vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen und nach Südafrika emigrieren. Als Journalisten konnten Sie aus politischen Gründen nach einer Reise nicht mehr nach Südafrika zurückkehren und mussten später auch Rhodesien verlassen.

Haben diese „Flucht“erfahrungen zu Ihrem Engagement gegen Ausgrenzung, Antisemitissmus und Rassismus beigetragen bzw. erst dazu geführt?

Antwort. Nein, das war die Folge von allem, das der Flucht vorausgegangen war: Die plötzliche Wende in meinem Geburtsland, wo ich mit neun Jahren in der Grundschule als Jüdin ausgegrenzt wurde und diese verlassen hatte.

Mein Vater verlor seine Anstellung bei einer „arischen“ Firma als Jude in den ersten Wochen nach Hitlers Machtergreifung, sodass wir das Dorf verließen. Zum Glück hatte er Verwandte in Südafrika, sodass er bereits 1933 auswandern konnte. Mutter, Schwester und ich blieben bis 1936 bei unseren Großeltern in meiner Geburtsstadt Fürth, wo ich in die Israelitische Realschule ging. Diese drei Jahre unter der Hitlerzeit, während der die Nürnberger Gesetze verabschiedet wurden, die u.a. uns Juden zunehmend entrechtete und uns schliesslich dem Schutz des Reiches entzog, prägten mich durch Demütigung, Verfolgung und stets neue anti-jüdische Gesetze, wie auch durch die wachsende Unsicherheit und Angst der Erwachsenen meiner Umgebung.

Da Fürth neben Nürnberg liegt, erlebten auch wir die Euphorie der jährlichen NSDAP Parteitage, wir kannten uns aus mit den neuen Fahnen, den Aufmärschen, mit Liedern wie „wenn das Judenblut vom Messer spritzt“.  Einmal wurde ich von einer Horde Jungen zur Schule verfolgt, zuvor von kleineren Kindern etwa meines Alters, auf dem Weg zur Synagoge. Eigentlich durften wir nicht mehr allein auf die Straße, ich hatte dies zweimal getan und die Agression gespürt. Das ganze Leben änderte sich. Wir besuchten unsere Verwandten und Freunde nicht wie zuvor. Die kleine Schule war überfüllt, manche Klassen wurden auf den Treppen unterrichtet, sowie in der Aula. Was die Jungen nicht abhielt, begeistert Fußball zu spielen, wenn auch außerhalb der Schule unter ständiger Aufsicht besorgter Lehrer. Wir wussten, alle Eltern suchten ein Land, das ihrer Familie Asyl geben würde, oft fehlten Kinder ohne Abschied, sodass wir wussten, ihre Familie hatte es geschafft zu flüchten.

Mein Großvater war ein sehr frommer Jude, sodass wir Mitglieder einer kleinen Gemeinde waren, die von einem Rabbiner im 17. Jahrhundert gegründet war, als Juden aus Wien vertrieben worden waren. Ich hatte viel von ihm gelernt,  sodass mein Judentum mir wichtig wurde.

Nach dem Krieg erfuhr ich, dass meine beste Freundin, ihre 3 Schwestern und Mutter deportiert und ermordet worden waren. Dem Vater war es verboten worden, als jüdischer Metzger zu arbeiten, er hatte in Holland vergeblich Arbeit gesucht. Wir mussten ebenfalls nach Kriegsende mehrere Verwandte betrauern, andere waren nach Amerika geflüchtet, ein Bruder meines Vaters, dessen Frau und der älteste Sohn mit seiner Frau und 2 Kinder folgten uns nach Südafrika.

So musste kein Erwachsener mir mit meinen fast 12 Jahren bei Ankunft in Südafrika erklären, dass in diesem Land die hellhäutigen Menschen das Sagen hatten und alle Dunkelhäutigen als Untermenschen betrachteten und behandelten. So wie wir Juden in Deutschland wegen unserer Religion angesehen wurden.

Ich hatte gesehen, wie schlecht die afrikanischen Dienstboten behandelt wurden, erlebte fast täglich wie an der Eisenbahnbrücke, über die ich zur Schule ging, wie Afrikaner aus den ankommenden Passagieren wahllos herausgegriffen, von Polizisten angehalten und nach ihrer I.D. gefragt wurden, das eigentlich ein dickes Pass-Buch war. Stimmte irgendetwas nicht, wurden sie festgehalten und an andere angekettet, bis keine Arbeiterzüge aus den schwarzen Ghettos mehr eintrafen um sodann einem Magistrat vorgeführt zu werden, der sie zu Haftstrafen verurteilte.  Was meistens harte Arbeit auf Farmen bedeutete.

Das und viel mehr hatte mich vom ersten Tag an politisiert, wobei ich in Südafrika Freunde außerhalb unseres Vorortes gefunden hatte, vor allem, aber nicht nur, unter anderen Flüchtlingen. Später konnte ich in meinem Beruf als Journalistin dagegen schreiben und darüber berichten, was mich in rassistischen Ländern wie erst Südafrika, dann Südrhodesien heute Zimbabwe und auch in damaligen portugiesischen Kolonien zur ‚unbeliebten Person‘ machte. So wurde ich einmal auf einer Schiffsreise in Beira, Mosambik, nachts vom portugiesischen Geheimdienst aufgeweckt, der mir sagen wollte, ich dürfte das Land nicht betreten. Dann bin ich eben in Kenia an Land gegangen, das unabhängig geworden war. Da ich aus Südafrika ausgewiesen wurde und meinen südafrikanischen Pass entzogen bekam, arbeitete ich in London, afrikanischen Ländern und London, in den 70er Jahren drei Jahre in Köln. Für meinen kleinen Sohn war es eine wechselreiche Kindheit mit Freunden aus mehreren Ländern.

Frage: Die Menschenrechte wurden vor 75 Jahren veröffentlicht zu einer Zeit, in der Sie eine 24-jährige junge Frau waren.

Haben Sie damals die Veröffentlichung wahrgenommen als Verbesserung der Menschenrechtssituation in Ihrem Umfeld? Können Sie bis heute Veränderungen bzw. Verbesserungen feststellen, die ursächlich damit zusammenhängen?

Gibt es unter den 30 Artikeln einen, der Ihnen besonders wichtig ist?

Was ist bislang erreicht worden, wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Antwort. Erstens war mir klar, dass die unfassbaren Nazi Gräuel gegen die Menschlichkeit, der Völkermord der Vernichtung von 6 Millionen Juden, sowie 220,000-500,000 Sinti und Roma und anderen Oppositionellen, inakzeptable Verbrechen waren. Dies sollte nie wieder stattfinden dürfen. Dabei verstand ich, dass das Konzept Menschenrechte und Menschenrechtsverletzung erstmals 1945 im Nürnberger Prozess gegen die Naziführung vor Gericht als solches benannt wurde – was später 1948 zur UN Menschenrechtserklärung führte. Diese „Universal Declaration of Human Rights“ hatte diese Rechte und ihre Verletzung definiert. Zudem sind damals abgesehen von den Vereinten Nationen auch verschiedene Nichtregierungs-Organisationen entstanden, wie etwa Human Rights Watch. Sie konnten beobachten und bezeugen – sowohl die Rechtsverletzungen als auch Tatverdächtige – und sie verfolgen oder die Menschenrechtsverstösse durch Presseerklärungen und genaue Berichte bekanntmachen. Inzwischen gibt es seit 1998 den Internationalen Strafgerichtshof, vor dem bereits Verantwortliche wegen solcher Verbrechen angeklagt und verurteilt worden sind.

Doch das ist bei weitem nicht genug! Die Verachtung der Menschenrechte und deren Verletzung ist viel zu weit verbreitet und wird nicht genug angeprangert und verfolgt. Zu viele Länder unterdrücken ihre Bevölkerung, haben Gesetze verabschiedet, die etwa erlauben, Oppositionelle zu verhaften, ohne sie vor ein Gericht zu stellen, und ihre Sicherheitsbehörden begehen Vergehen, wie Entführung,  Folter oder Mord. Die Liste der Verletzungen der Menschenrechte ist überwältigend. Keine autokratische Regierung sollte straflos ausgehen, wie es noch heute der Fall ist. Deswegen sind engagierte Rechtsanwälte und aktive Beteiligung der Zivilgesellschaft sehr wichtig!

Unterstützung der Verteidigung der Menschenrechte ist lobenswert.- Das Verständnis dafür sollte in der Kindheit und Jugend beginnen.

Schon einem Kind müsste erklärt werden, nicht bei mobbing mitzumachen! Keine/n wegen ihrer/seiner Herkunft, des Glaubens, Aussehens oder „anders seins“  zu beschimpfen, zu verachten oder auszugrenzen!

Bitte nicht wegschauen, wenn eine/r von anderen ungerecht behandelt wird. Protestieren, die Missachtung verurteilen und eingreifen, wenn es nicht anders geht!

Frage : Nach Eintritt in das Rentenalter füllen ältere Menschen ihren Alltag mit Dingen aus, die ihnen Spaß machen und wozu es keine Verpflichtungen mehr gibt. Trotz Ihres hohen Alters unternehmen Sie immer noch beschwerliche Reisen, um gerade jungen Menschen von ihrer Lebensgeschichte zu erzählen und um sie um ihr Eintreten gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung zu bitten.

Was treibt Sie an, woher nehmen Sie die Kraft dazu?

(c) 3-Religionen Grundschule Osnabrück 2022 (Ruth Weiss Besuch 2.9.22)

Antwort. Wie gesagt, konnte ich das Unrecht nicht ertragen, das in dem neuen Heimatland in dem wir Asyl fanden, die weiße Minderheit der Mehrheit der Bevölkerung antat. Ich hatte selbst Ungerechtigkeit erfahren. Die Werte meiner Religion hatten mich gelehrt, dass alle Menschen gleichwertig sind und man ihnen mit Respekt begegnet muss. Ein Beispiel für Respektlosigkeit aus jener Zeit: der spätere südafrikanische Präsident bekannt als Nelson Mandela, sagte seiner ersten weißen Lehrerin er heiße Rolihlahla. Sie winkte ab, das konnte sie nicht aussprechen oder sich merken und erklärte nur, „ich nenne dich Nelson“ – und dabei bliebs!

Und heute? Der zunehmende Antisemitismus, bis hin zur Leugnung des Völkermords an den Juden, der Shoah, und wachsende Fremdenfeindlichkeit haben mir natürlich angezeigt, dass diejenigen, die die Verbrechen der Nazizeit erlebt haben, langsam aussterben und der jungen Generation bald nicht mehr davon erzählen können – also die, die Überlebende der grausamen KZs waren, oder damalige Flüchtlinge wie ich es mal war. Deswegen dachte ich, ich sollte weiter mit jungen Menschen sprechen, so lange es mir möglich ist. 

Kein Mensch ist mit Vorurteilen geboren. Die eignet man sich von der Familie oder anderen an! Doch ehe man jemand verurteilt, weil man etwas Abfälliges über seine/ihre Herkunft gehört hat, versuche Dich zu informieren! Dann wirst Du herausfinden, dass Du dich geirrt hast, dieses Abfällige stimmte nicht und wurde nur verbreitet, weil diese Person „anders“ als die Mehrheit ist und es keinen Grund gibt, sie deswegen anzugreifen.

Deshalb hatte ich im Ruhestand angefangen, Romane zu schreiben. Als ich zuerst  Grundschulen besuchte und dort gelesen hatte, erfuhr ich, dass sie von der jüdischen Religion und der langen Geschichte des jüdischen Volkes gar nichts wussten – , wie sollten sie auch. So begann ich Geschichten über erfundene Menschen zu schreiben, die zu bestimmten – geschichtlich verbrieften – Zeiten seit dem ersten Jahrhundert unserer Zeit gelebt haben mögen. Ich schrieb auch einige Romane über Afrika und andere Länder. Meine Hoffnung war, dass den Lesern die  Geschichten gefielen – und sie dabei auch etwas über die Geschichte anderer Völker erfahren.  Ich freute mich,  dass mein Buch „Meine Schwester Sara“ vom Land Baden Württemberg zweimal als Pflichtlektüre für Realschulen ausgesucht wurde.

Derartige Romane können Vorurteile abbauen. Einer meiner Freunde sagte mal, er könne keine Inder leiden. Er musste zugeben, dass er keinen Inder kannte. Bis er in einem Krankenhaus von einem indischen Arzt behandelt wurde, mit dem er sich gut unterhielt und verstand. Dabei bliebs nicht – sie wurden Freunde und blieben es!

Begegnung, Verständnis ist meistens bereichernd. Auf jeden Fall bekämpft “Wissen“  Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Anti-Islamismus. Das ist hilfreich in einem Land mit Minderheiten. Leider verhindert es nicht die schlimmen Konflikte die augenblicklich weltweit stattfinden, in Ukraine und dem Nahen Osten – sowie in anderen Ländern!

Frage: Welchen Wunsch haben Sie? Was möchten Sie uns allen mitgeben?

Antwort.

Mein Wunsch ist, dass :

…eine neue faire Weltordnung entsteht, sodass der Planet sich von der Ausbeutung der Menschheit erholen kann.

… die autokratischen Herrscher, Eliten und Super-Reichen sich weniger mit den eigenen Privilegien beschäftigen und statt dessen helfen, die globalen Probleme zu lösen, beginnend mit der großen Kluft zwischen Hungernden und den Wohlhabenden. Auch diese Liste ist leider viel zu lang.

die kritische Lage dieser Zeit alle Menschen zur Vernunft bringt – und jede/r versteht, wir müssen gemeinsam die Probleme angehen, anstatt sich gegenseitig zu bekämpfen!

Ohne Frieden geht die Menschheit einer dunklen, schweren Zukunft entgegen.

Euch wünsche ich alles Gute!