… oder wie der Busch gerettet wurde
von Ruth Weiss
Zelda hatte lange keinen Namen. Hätte sie das erfahren, hätte sie sich nicht gewundert. Im Gegenteil, sie hätte wahrscheinlich eher gedacht, dass es erstaunlich war, dass sie überhaupt einen Namen erhalten hatte.
In ihrem Volk war es Sitte, dass der Vater sein Neugeborenes auf den Arm nahm um mit diesem allein in den Busch zu gehen. Dort flüsterten die Ahnengeister ihm einiges über das Kind zu. Ob es klug sei, gefügig, eigenwillig oder anderes. Danach konnte er zurückkehren und den Namen des Kindes verkünden.
Zeldas Vater aber fasste sein Kind nicht an.
Er hatte die Hütte am Abend betreten, nachdem die Frauen wie üblich Mutter und Kind versorgt hatten. Erschrocken war er mehrere Schritte zurückgetreten. Hatte erneut die schlafende Frau und das Kind betrachtet. Hatte gefühlt, wie sein Herz sich zusammenzog. Und mit einem Fluch auf den Lippen hatte er sich abgewandt und war im Busch verschwunden.
Es war das letzte Mal, dass er seine Tochter sah. Ihre Mutter wartete nicht auf die Rückkehr ihres Mannes. Am Tag nach der Geburt zog sie mit ihrem wenigen Besitz, ihren Kochtöpfen und Zelda auf dem Rücken, die noch nicht so hieß, zurück zu ihren Eltern. Nachdem sie sich erholt hatte, ging sie in die Stadt um Arbeit zu suchen. Das namenlose Kind hinterließ sie bei den Eltern. Ihr Vater war Dorfältester, sodass niemand offen dagegen murrte.
Das Mädchen war drei Monate alt, als ein Brief die alten Leute erreichte, die ihr Enkelkind angenommen hatten. Die Mutter sandte einige Geldscheine, da sie für eine weiße Familie arbeitete. Das Kind sollte Zelda genannt werden. Wobei sie nicht erklären musste, dass dies der Name der Madam war, die sie angestellt hatte.
Zelda wurde von der Großmutter zu ihrer täglichen Feldarbeit mitgenommen, wo sie als Baby meist unter einem Baum schlief. Sobald sie laufen konnte, schärfte die Großmutter ihr ein, niemals den Garten, wie sie ihr Feld nannte, zu verlassen. Sie musste auch im eingezäunten Hof bleiben, in denen die Hütten lagen wo gekocht und geschlafen wurde. Da sie ein braves Mädchen war, befolgte sie diese Anweisungen, auch wenn sie öfters andere Kleinkinder hörte und manchmal einige vorbeilaufen sah.
Erst als fast Dreijährige erfuhr sie, dass sie anders war als andere.
Die Großmutter hatte sie auf ihren Rücken gebunden zu einem mobilen Klinik im Busch getragen, die von Krankenschwestern eines ländlichen Krankenhaus periodisch angeboten wurde. Zeldas Großmutter stand mit ihr in einer Schlange vor zwei Krankenschwestern. Verwundert sah die Kleine die Frauen mit Kindern, viele klein wie sie, die bald mit einander spielten, nachdem sie gewogen und untersucht worden waren. Als die Schwester Zelda wieder auf den Boden gestellt hatte und mit Großmutter redete, watschelte Zelda auf die Kinder zu. Sofort kreischten diese und stoben wild auseinander, während einige Frauen ihr ein häßliches Wort zuriefen und sagten, sie solle verschwinden! Erschrocken lief sie zur Großmutter, die sie ausschimpfte, weil sie weggelaufen war.
Zelda schluchzte: „Ich wollte – die Kinder…“
„Mit denen hast du nichts zu tun.“
Zelda versuchte es zu verstehen. In den Hütten gab es keinen Spiegel. Aber einige Wochen nach der Buschklinik musste Großmutter mit ihr ins Krankenhaus, da die Schwester gesagt hatte, Zelda sei blutarm. Im Warteraum war an der Wand gegenüber von Großmutters Stuhl ein großer Spiegel.
Zum erstenmal sah Zelda, dass ihr Gesicht bleich war. Nicht dunkelbraun wie Großmutter! Auch alle andere Frauen und Kinder waren dunkelbraun.
Danach merkte sie, dass außer der Großmutter, keine der Frauen die ebenfalls in ihren Gärten arbeiteten, je mit ihr sprachen, obwohl sie mit anderen Kinder redeten, die mit ihren Müttern gekommen waren. Ich bin anders, dachte sie, sie mögen das nicht.
Sie konnte nicht wissen, dass sie an etwas litt das Albinismus hieß und bedeutete, dass die Bildung des Pigments Melanin gestört war, sodass ihre Haut besonders hell schien.
Das wusste Großmama auch nicht, doch ihr war bekannt, dass mancher traditioneller Heiler glaubte, dies habe mit Magie zu tun – die Körperteile von Albinos besässen magische Kräfte und könnten Glück bringen! Sie liebte Zelda und hatte große Angst um sie. Immer wieder gab es Gerüchte aus anderen afrikanischen Ländern über Tötungen und Verstümmlungen von Menschen wie sie! Ja, auch aus ihrem Land. Sie musste alles tun, um Zelda zu beschützen.
Der Großmutter war nicht bekannt, dass auch andere Wesen an dieser Störung litten. Aber da auch der Großvater wegen Zelda bekümmert war, nahm er sie öfters mit sich wenn er im Busch auf Jagd ging. So lernte sie die Tiere und Pflanzen kennen. Vor allem liebte sie die graziösen Gazellen und war stets traurig wenn eine von diesen getötet wurden. Als sie älter wurde, ging sie manchmal heimlich allein in den Busch, wo sie sich im hohen Gras versteckte um die Gazellen zu beobachtete.
Eines Tages konnte sie es kaum glauben! Neben einer großen hellbraunen Gazelle lief eine kleine weiße! Diese sah genauso aus wie die anderen – bis auf die Farbe! Darauf ging Zelda so oft in den Busch wie sie konnte. Sie beobachtete wie das kleine Weiße zu einem großen Bock wurde und betrachtete ihn als Bruder.
An einem heissen Tag hatte der Wind einen glühenden Zigarettenstummel im Busch erneut entfacht. In wenigen Minuten brannte ein Gebüsch, sodass die Flammen um sich griffen. An diesem Tag war Zeldas Großvater mit anderen auf der Jagd. Keiner von ihnen hatten je den Weißen gesehen. Sie wussten auch nicht, dass Zelda ihnen nachgeschlichen war und den Weißen entdeckt hatte, der, zu einem prächtigen Leittier geworden, auf einem kleinen Hügel seine Herde beobachtete. Plötzlich sah sie Flammen in die Höhe schlagen. Der Busch brannte! Gleichzeitig hatte das Leittier es bemerkt. In Sekunden wandte er sich in eine andere Richtung um die Herde in Sicherheit zu bringen!
Zelda erkannte die Gefahr der Jäger, die das Aufflammen aus ihrem Hinterhalt noch nicht sehen konnten. Sie legte die Hände um den Mund, schrie laut:
„Der Weiße flieht! Folgt ihm! Der Busch brennt!“
Verstört sprangen die Jäger auf. Bemerkten das ominöse Knistern. Hörten wie Vögel sich mit verschrecktem Geschrei über den Busch hinauf in die Luft schwangen. Verstanden, die Flammen würden sie bald umzingeln! Sahen einen weißen Bock gefolgt von einer Herde Gazellen über Gras, Gebüsch und Dornbäume setzen. Und folgten der Herde und dem warnenden Ruf!
Kaum den Flammen entkommen, ergriff der Grossvater einen Ast. Die anderen folgten ihm. Gemeinsam schlugen sie auf das brennende Unterholz und Gras ein. Jeder wusste, ihre Felder, ja – ihr Dorf – waren gefährdet. Schwere Arbeit. Als sie endlich den letzten Funken gelöscht hatten, sahen sie erstaunt Zelda, die nun ebenfalls erschöpft, sofort den Brand bekämpft hatte. Sie war es, die sie gewarnt hatte!
Keiner brauchte eine Erklärung, dass Zelda großen Schaden verhindert hatte. Beschämt sahen sie, wie der Dorfälteste die Enkelin in die Arme schloss. Auch musste keinem gesagt werden, dass von nun an Zelda vom ganzen Dorf akzeptiert und beschützt würde. Wobei die Geschichte der weißen Gazelle, die wohl der jungen Frau von den Ahnengeistern gesandt worden war, eine grosse Rolle spielte und seitdem von Mund zu Mund ging.
Kein Dorfbewohner sah den weißen Bock je wieder.
Nur Zelda, inzwischen verheiratet und Mutter von zwei dunkelbraunen Kindern, ging manchmal in den Busch um ihn aufzusuchen und zu bewundern.
Ende