Der Pass mein Zuhause – Ruth Weiss über A. Markovits neues Buch.

PEN Laudator (Ruth Weiss Festschrift 2022) Prof. Markovits stellt in diesen Tagen sein neues Buch vor, „die bewegte Autobiografie eines jüdischen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, geprägt von vielfältigen Orten, Sprachen und Emigrationen“ , so die Einleitung des Neofelis Verlags. Ruth Weiss hat es für uns gelesen. Hier ihre Buchbesprechung.

Manchmal hat man das Glück, eine großartige, dazu informative Autobiografie zu lesen, die nicht nur vielschichtig ist, sondern auch in einem hervorragenden Stil, leicht verständlich geschrieben ist. Andrei Markovits, der illustre Professor für Vergleichende Politikwissenschaft (Karl W. Deutsch Professur) und Germanistik (Arthur F. Thurnau-Professur) in Michigan, berichtet mit Humor und großer Gelehrtheit über sein Leben und Wirken. Es nimmt die LeserInnen mit zu den wichtigsten Begebenheiten und Entwicklungen seit 1945 in zwei Kontinenten.

Das Buch beschreibt das Leben eines jüdischen Intellektuellen, der drei Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges in Temeschwar, Rumänien geboren wurde. Seine erweiterte Familie lernte er nicht kennen, die fast ganz durch die Shoah ausgelöscht worden war. Die Mutter verlor er ebenfalls früh, um vom alleinziehenden Vater erzogen zu werden. Trotz des Schocks und Trauer betrachtete er die starke Beziehung mit dem Vater als Glück, der sich ganz dem Sohn widmete, abgesehen von seinem Geschäft. Markovits meinte, der Vater, der u.a. stets Karten für wichtige Fußballspiele erstehen konnte, sei der eigentliche Held seines Buches, auch wenn ihm in Amerika kein neuer Aufstieg gelungen war.

In Temeschwar , Rumänien war Andrei Markovits Muttersprache Ungarisch, dazu wurde er in Englisch und Französisch unterrichtet, ehe er als Neunjähriger mit dem Vater nach Österreich emigrierte. Markovits betrachtete sich nie als Opfer und beklagte weder den Verlust der Heimat noch die staatenlosen Jahre in Wien, wo er nicht glücklich war. Er bewältigte beides mit Elan, wie die Emigration insgesamt, von Rumänien über Wien nach Amerika. Dabei fungierte Wien als Zwischenstation, indem diese nach der Matura, dem Schulabschluss, zum Sprungbrett in die Vereinigten Staaten Amerikas wurde. Danach erlernte er weiter verschiedenen Sprachen in anderen Ländern, in denen er im Lauf seiner schillernden Karriere lebte. Jiddisch erwarb er in New York, wo sonst!

Unerwartet ist sein Interesse und Wissen über Sportarten, über die er u.a. schrieb. Dazu prägten ihn die Liebe für Hunde und deren Rettung, sowie seine musikalischen Interessen, die mit Rock beginnen, wobei er der Band „The Grateful Dead“ über die Jahre zugetan geblieben war, wie auch seinem Liebling Bob Dylan.

Reich an Freundschaften und Bekanntschaften – oft mit anderen Prominenten – beschreibt Professor Dr. Markovits, wie er seine fehlenden Wurzeln und weltweite Erfahrung benutzte, um Weltbürger zu werden. Gleichzeitig wurde er auch zum glühenden Verehrer der strahlenden „city upon a hill“, die ihm Amerika bedeutet, dessen mächtiger „Pass zum Zuhause“ wurde. Das konnte ihm Europa nie geben. Amerika war sein Ziel geworden, wie sein Vater geplant hatte, sodass sein Sohn sich dort für das Studium an der Columbia Universität bewarb und bestand. Seine Beschreibung darüber zeigte dem Jüngling, dass er sich an andere Sitten gewöhnen musste. In Wien war er gewohnt, dass alles käuflich war. Erstaunt, als der Aufpasser den Raum verlässt, pirschte er sich an den Nachbarn heran, von dem er Hilfe erhoffte. Steif abgewiesen, begriff er, dass dies in diesem Land nicht ging – und akzeptierte die gegebenen Normen. In Columbia erwarb er fünf Universitätsabschlüsse, ehe er nach seiner Promotion an das Zentrum für Europäische Studien der Harvard Universität ging.

Das heißt nicht, dass er sich auf Amerika beschränkte, wo er lehrte, offensichtlich zur Freude seiner Studenten, wie seine verschiedenen Lehrpreise beweisen. Im Gegenteil, er lehrte in vielen Ländern, veröffentlichte zahlreiche Bücher und akademische Artikel, die in viele Sprachen übersetzt wurden.  Über mehrere Jahrzehnte verband sein Leben Amerika und Europa, sodass er in akademischen Kreisen als Spezialist für Westliches und Zentrales Europa anerkannt ist, vor allem für Deutschland und Österreich. Seine scharfen Analysen der zwei Erdteile erregten stets große Interesse.

Seine Beziehung zu Deutschland, wo er u.a. die Gewerkschaften studierte und analysierte, war verständlicherweise durch die Shoah problematisch, wobei er mit dem deutschen Verdienstkreuz u.a. für seine Versöhnungstätigkeit geehrt wurde. Markovits meinte, die Leiden der Nazi-Opfer seien nicht gut zu machen, auch wenn sie in Erinnerung gehalten werden. (Wie einer seiner Artikel mit dem Titel “Europäische Krokodilstränen,” im „Handelsblatt des 4.11.2004 zeigt). So beschreibt er, dass seine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus dermaßen belastend wurde, dass seine Frau ihm riet, sich anderen Themen zu zuwenden.

Markovits würdigte Willy Brandts Kniefall am 7. Dezember 1970 am Mahnmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto, der ihn sehr bewegte. Erneut erwähnte er diesen in einem Artikel nach Beginn des Überfalls Russlands in die Ukraine. Dort beschreibt er den Kniefall als symbolisch für den Diskurs der Reue, der zum wesentlichen Teil des Images und der Identität der Bundesrepublik geworden war, gegenüber Juden, Israel, sowie Osteuropa, einschließlich der damaligen Sowjetunion. Dabei fragt er „was nun“, angesichts Deutschlands großer Abhängigkeit von russischem Öl und Gas. Die Prämisse, es könnte keinen europäischen Krieg mehr geben, war plötzlich verschwunden. Neues Verhalten sei nötig, was das Rampenlicht auf die Grünen wirft. 

Markovits „Der Pass mein Zuhause“ ist eine Begegnung der Leser*Innen mit einem Gelehrten, der sie durch die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts begleitet, mit dessen politischen, auch sozialen sowie kulturellen Entwicklungen. Keine Facetten werden übersehen, wie Antisemitismus und Rassismus mit deren Fanatismus oder die zunehmende Kluft zwischen arm und reich. Letztere führten schließlich unvermeidlich zu der Welle extrem-rechter Politik, die dieses Jahrhundert belastet.

Temeschwar ist übrigens Europäische Kulturhauptstadt 2023. Das Buch – ein passender Beitrag.

Ruth Weiss, Ehrenvorsitzende des PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland

(Neofelis Verlag ab 05.09.2022 – Deutschland Lesereise des Autors im Oktober 2022 !)