Eine Deutschlandreise mit Ruth Weiss im Herbst 2020
(>>English Version)
von Lutz Kliche
Seit vielen Jahren reise ich mit Ruth ein- bis zweimal im Jahr durch Deutschland, wir lesen zusammen in Schulen, Bildungsstätten und Buchhandlungen. Dabei erzählt Ruth meist aus ihrem Leben, von ihren Erfahrungen als Betroffene von Diskriminierung und Anti-Semitismus als Jüdin in Nazideutschland und als Zeugin, Zeitzeugin im allerbesten Sinne.
Zeitzeugin des Rassismus, der Diskriminierung der nicht-weißen Bevölkerung durch die weiße Minderheit in Südafrika, wohin Ruth mit ihrer Familie hatte fliehen müssen. Ich moderiere die Veranstaltung und lese die entsprechenden Textpassagen aus Ruths Autobiografie „Wege im harten Gras“ oder zuweilen auch aus anderen ihrer Bücher, vor allem „Meine Schwester Sara“, dem Roman, der schon zweimal als Prüfungslektüre in den 10. Klassen der Realschulen in Baden-Württemberg ausgewählt wurde.
Wegen der Covid-19-Krise hatten wir unsere Frühjahrsreise absagen müssen und konnten nur ein paar virtuelle Lesungen im Internet machen. Aber es war uns möglich, den ganzen September über unterwegs zu sein, und ich glaube, wir haben die im Frühjahr ausgefallenen Veranstaltungen damit mehr als wettgemacht.
Lessingschule in Hamburg
Ruth und ich trafen uns in Hamburg, wo wir auch gleich unsere erste Lesung hatten, und zwar in der Lessingstadtteilschule in Hamburg-Harburg. Dort saßen wir am 4.9. in einer trotz Corona-Social-Distancing recht gut gefüllten Aula einer erwartungsvollen Schar von Oberstufenschülern gegenüber, von denen viele ganz offensichtlich einen muslimischen Familienhintergrund hatten, was auf den ersten Blick an den Kopftüchern einiger Mädchen erkennbar war. Das ergab nach unserem Vortrag natürlich eine spannende Diskussion, bei deren Moderation mir wieder einmal besonders deutlich wurde, wie wichtig diese Veranstaltungen sind: Mit ihrem langen Leben und all ihren Erfahrungen hat Ruth natürlich eine ungeheuer große sachliche und ethische Autorität, und es war wunderbar zu erleben, wie groß der Respekt, die Akzeptanz gerade auch der muslimischen Jugendlichen gegenüber dieser jüdischen alten Dame war, die gut und gern ihre Urgroßmutter hätte sein können. Der Bericht eines Schülers erreichte uns später. Ein gelungener Start für unsere Reise!
Lüdinghausen
Von Hamburg ging es weiter nach Lüdinghausen, Ruths langjährigem Wohnort, wo Ruth wie immer von alten Freunden mit offenen Armen in Empfang genommen wurde. Es ist für mich immer wieder toll zu erleben, wie sehr sie dort geliebt wird! Außer den zwei Schullesungen in Recklinghausen am Theodor-Heuss-Gymnasium und am Canisianum in Lüdinghausen hatten Josefine und Konrad Kleyboldt die Freund:innen zum Kaffee eingeladen, das große Wohnzimmer platzte aus allen Nähten. Ruth sagt ja immer, dass sie sich dort zu Hause fühlt, wo sie sich von guten Freund:innen verstanden fühlt, und daran gemessen, ist Lüdinghausen ohne Zweifel ein Zuhause für sie!
In Lüdinghausen gab Ruth auch ein ausführliches Interview für die Freund:innen von „exile e. V.“, der Agentur, die seit Jahren Ruths Schullesungen in NRW organisiert und mit dem Material weitere Lesungen vorbereiten kann.
Von Lüdinghausen ging es nach Garbsen bei Hannover, wo wir an der Integrierten Gesamtschule an zwei Tagen drei Lesungen abhielten, sehr gut vorbereitet von den Kolleg:innen um Frau Wesemann-Mutz.
Aschaffenburg
Ein Zuhause ist für Ruth neben Lüdinghausen auch Sulzbach bei Aschaffenburg, die nächste Station unserer Reise. Anni Kropf und Günter Springer-Kropf waren unsere Gastgeber, und auch in Aschaffenburg gab es, außer den zwei Schulveranstaltungen in der Ruth-Weiss-Realschule, auch eine erste persönliche Begegnung der neuen Schüler:innen und ihrer Eltern mit der Namensgeberin ihrer Schule. Ihre vielen Fragen führten zu einem lebhaften Austausch, alle waren sehr beeindruckt und stolz, die Ruth-Weiss-Schule zu besuchen. Drei Klassen, die aufgrund der Coronamaßnahmen nicht an der Veranstaltung teilnehmen konnten, sandten wunderbare Videobotschaften. Im Hans-Seidel-Gymnasium war der thematische Schwerpunkt die Apartheid in Südafrika.
In Aschaffenburg kam es, wie schon in Lüdinghausen, zu zahlreichen privaten Begegnungen mit guten, alten Freund:innen. Ein kleiner Höhepunkt war der Besuch von Frau Professor Vietor-Engländer, der Vertreterin des PEN Zentrums Deutschsprachiger Autoren im Ausland (Exil PEN), das Ruth erst kürzlich zu seiner Ehrenpräsidentin ernannt hat https://exilpen.org/ehrenpraesident/ . Das gemeinsame Mittagessen bot gute Gelegenheit zum inhaltsreichen Gespräch.
Von Aschaffenburg aus unternahmen wir auch einen Tagestrip nach Homburg, Saar, zu einer Lesung am Johanneum, die an einem strahlend sonnigen Spätsommernachmittag stattfand. Umso bemerkenswerter war es, dass bei freiwilliger Teilnahme so viele junge Leute und einige Eltern den Weg in die Aula gefunden hatten und mit großer Aufmerksamkeit und guten Fragen an der Veranstaltung teilnahmen. Enorm, dass Ruth auch die folgende Abendveranstaltung in Zweibrücken mit voller Konzentration auf ihr interessiertes Publikum anging.
Dokumentationszentrum Nationalsozialismus in Nürnberg
Auch wenn jede der Veranstaltungen etwas besonderes und jeweils ein Höhepunkt für sich war, so stellte dann die Lesung im Dokumentationszentrum Nationalsozialismus in Nürnberg, sozusagen im ideologischen Epizentrum des Terrors, dort, wo Hitler seine Hassreden hielt und die Aufmärsche der Nazi-Parteitage inszeniert wurden, einen besonderen Höhepunkt der Reise dar. Astrid Betz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dokuzentrum, hatte den Abend bestens vorbereitet. Eine grosse Zuhörerschaft hatte sich angemeldet, doch durften wegen der notwendigen Corona-Maßnahmen nur um die 50 Personen eingelassen werden, um Ruth zum Thema Rassismus sprechen zu hören: Die Veranstaltung stand im Zusammenhang mit dem 85. Jahrestag der Nürnberger Rassegesetze, die die Deutschen jüdischen Glaubens ihrer politischen Rechte als Staatsbürger beraubten und von denen eines den furchtbaren, ja, grausamen Titel „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ trug. Eindrucksvoll stellte Ruth den Zusammen-hang zur Rassenpolitik der südafrikanischen Apartheidsregierung her, die diese Gesetze in großen Teilen übernahm und auf die Spitze trieb: Die Rassendiskriminierung im Südafrika der Apartheid, so Ruth, wirkte in ihren wahnhaften Auswüchsen wie „absurdes Theater“.
Frau Betz hatte für die ‚Corona-überzähligen‘ Interessenten eine Lösung parat, die uns Allen nun zugute kommt: Das Dokumentationszentrum Nationalsozialismus hat die eindrucksvolle Veranstaltung komplett aufgenommen und nun online gestellt.
Nürnberg bot auch Gelegenheit für ein ausführliches Interview mit dem Bayerischen Rundfunk, das die Redakteurin Barbara Bogen führte. Ein spannendes Gespräch, das hier nachgehört werden kann.
Von Nürnberg ging es weiter nach Dresden, wo wir bei der „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ zu Gast waren und Anne Gnüchtel, Hildegart Stellmacher und Jakoba Schönbrodt im Café der Dreikönigskirche eine für Corona-Zeiten sehr gut besuchte Abendveranstaltung auf die Beine gebracht hatten.
Brandenburg und Berlin
Michendorf. Krönender Abschluss der Woche war eine Freiluft-Lesung im Kiju – Haus der Kinder, Jugend und Familien in Brandenburg an der Havel, bei der nicht nur der RBB und weitere Fernsehsender, sondern auch die Bildungsministerin des Landes, Britta Ernst, aufmerksame Zuhörer waren.
Von Potsdam war es nur noch ein Katzensprung nach Berlin, wo das Wochenende zu Treffen mit Freund:innen und alten Weggefährt:innen, auch Vertreter:innen von Organisationen und Stiftungen genutzt wurde, – anregende, produktive Gespräche voller guter Ideen und Pläne für die Arbeit der Ruth-Weiss-Gesellschaft.
Bei der letzten Lesung an der Carl-v.-Ossietzki-Gemeinschaftsschule in Berlin-Kreuzberg formulierte Ruth dann die Antwort, die sie schon vorher an einigen Schulen gegeben hatte und die sich im Titel dieses Berichts wiederfindet:
Als sie Anfang der 2000er Jahre nach Deutschland zurückkehrte, um wieder im Land ihrer Geburt zu leben, da tat sie dies, weil sie zu der Überzeugung gelangt war, dass das Land sich verändert hatte und nicht mehr ein Land von Nazis und Rassisten, von Anti-Semiten war. Das fand sie in der Willkommenskultur des Jahres 2015 bestätigt, im „Wir schaffen das“ der Bundeskanzlerin. Doch in der seither wachsenden Fremdenfeindlichkeit und im wieder erstarkenden Anti-Semitismus, die sich in Anschlägen wie dem auf die Synagoge in Halle, wo Angehörige jüdischen Glaubens das Ziel waren, und in Hanau, wo es Muslime waren, ihren schlimmsten Ausdruck finden, sieht sie eine mehr als bedenkliche Entwicklung.
„Ja, ich bin in Sorge“, sagt sie ganz unumwunden.
Und es ist diese bedenkliche Entwicklung, die Ruths Zeitzeugenschaft und ihre klare Haltung gegen jede Art von Rassismus, Diskriminierung und Intoleranz dem „Fremden“ gegenüber so wichtig macht! Hoffen wir, dass noch viele Reisen und Veranstaltungen möglich sein werden!